Genesis P-Orridge: Die Möglichkeiten des Menschseins (2024)

Der Musiker Genesis P-Orridge hat zeitlebens die Grenzen der Kunst, des Körpers, des Selbst getestet. Nun ist der Gründer von Throbbing Gristle und Psychic TV gestorben.

Von Jens Balzer

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Genesis P-Orridge: Die Möglichkeiten des Menschseins (1)

Existenzphilosoph, Krachkaiser, Sexguru: In der Popmusik der letzten Jahrzehnte hat es keine zweite Figur gegeben wie ihn. Wie kein anderer hat Genesis Breyer P-Orridge über fast 50 Jahre hinweg die Grenzen der musikalischen Erfahrung getestet; die Möglichkeiten des Klangs und der klanglichen Überwältigung seiner Hörer; die Grenzen des Selbst und des eigenen Körpers; und das Glück der Überschreitung von allem, was die überkommenen Traditionen der Kultur und der Zivilisation uns als selbstverständlich erscheinen lassen.

Geboren wurde er 1950 in Manchester unter dem Namen Neil Andrew Magson. Seine künstlerische Karriere begann er Anfang der Siebzigerjahre als Hippie, in der Exploding-Galaxy-Kommune in London. Diese kann man sich als Pendant zur Berliner Kommune I vorstellen, bloß dass deren Mitglieder sich einer noch weit konsequenteren Dekonditionierung des Daseins verschrieben hatten. Sie wollten nicht weniger erreichen als die Auflösung aller Institutionen und Riten, an denen die Menschen sich sonst orientieren, also gewissermaßen einen Zustand der existenziellen Anarchie erlangen. Die Kommunarden versagten sich feste Identitäten – jede und jeder ging jeden Tag in einem neuen Kostüm, in einer neuen Charakterolle auf die Straße –, sie versagten sich feste Wohnplätze, regelmäßige Schlafzeiten und jede Art von Privatsphäre. "Wir wollten wissen, was vom Menschen bleibt, wenn man ihm alle Konventionen nimmt", hat Genesis P-Orridge mir später in einem Interview einmal gesagt: "Es ging um die totale Dekonditionierung."

In der Kommune lernte er auch seine erste Partnerin Christine Carol Newby kennen, die sich als Künstlerin Cosey Fanni Tutti nannte. Gemeinsam bildeten sie das Performance-Duo COUM Transmissions, das bis zur Mitte der Siebziger für Furore sorgte. Sie kopulierten in Galerien über rostigen Metallskulpturen, sie aßen blutige Tampons, aber auch mit Scheidenflüssigkeit eingeriebene Maden und erbrachen sich lustvoll auf ihre blut- und spermaverschmierten Körper. Von Teilen der Öffentlichkeit wurde dies als Provokation verstanden. Aber darum, sagte P-Orridge, sei es ihnen nie gegangen. "Wir wollten das eigene Selbst erkunden und seine Prägungen; wir fragten uns: Wieso bereitet es uns eigentlich Probleme, öffentlich zu masturbieren – wo es doch überhaupt keine Probleme bereitet, einen Badeanzug zu tragen oder zu Hause heimlich zu masturbieren? Warum ist Nacktheit anders, wenn andere Leute zugegen sind? Wir wollten wissen, was die echten Grenzen sind – und was die Grenzen sind, die uns kulturell aufgeprägt wurden."

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1975 gründeten Genesis P-Orridge und Cosey Fanni Tutti gemeinsam mit Chris Carter und Peter "Sleazy" Christopherson die Popgruppe Throbbing Gristle, zu deutsch etwa: pochender Knorpel. In dieser führten sie die Ästhetik der Transgression mit musikalischen Mitteln fort. Im November 1977 erschien ihr Debütalbum The Second Annual Report. Mit Synthesizern, Bandmaschinen und und selbst zusammengelöteten elektrischen Geräten erkundeten Throbbing Gristle die psychischen und körperlichen Wirkungen von Sound: Welche Frequenzen schmerzen in welcher Weise? Und kann man psychedelische und sonstige Drogen durch konsequente Berauschung mit Geräuschen ersetzen?

"Wir wollten wissen, wie Sounds auf den Körper wirken", sagte P-Orridge in einem unserer Interviews, "wir lasen viel Fachliteratur über sonische Kriegsführung und die Manipulation des Unbewussten durch Sound. Throbbing Gristle waren wahrscheinlich die erste Band, die systematisch mit Samplingtechniken arbeitete, wir benutzten Cut-up-Tapes und Tape Recorder. Wir interessierten uns für afrikanische und asiatische Musik; für Musik, die Trancezustände erzeugte; und es gab auch Theorien, die sagten, dass man mit bestimmten Arten von Sounds Chemikalien im Gehirn freisetzen kann, die ähnliche Wirkungen haben wie LSD."

Bei einer Debatte im britischen Unterhaus über die Verteilung von Kulturgeldern wurden Throbbing Gristle als "wreckers of civilization" geadelt, als Zerstörer der Zivilisation. Im Ausmaß des Unmuts, der ihnen entgegenschlug, übertrafen sie sogar noch die Sex Pistols, die zeitgleich ihre Karriere begannen. Die öffentliche Wirkung von Throbbing Gristle war zwar bei Weitem nicht so groß wie jene der frühen Punks. Gleichwohl entstand ein schnell wachsender Kult um die Band, eine fanatische Anhängerschaft – ein Phänomen, das Throbbing Gristle mit einer zusehends paramilitärischen Inszenierung ihrer Platten und Auftritte beantworteten.

Ihr Label nannten sie "Industrial Records" und erfanden damit den Namen für ein ganzes Genre: Unter dem Rubrum "Industrial" firmieren seither all jene Bands, die ihr Publikum mit extremen Arten des Klangs zu überwältigen, niederzuzwingen und zu erheben versuchen, von den Einstürzenden Neubauten im Westberlin der Achtzigerjahre bis zu Rockgruppen wie Nine Inch Nails. Auch die frühen Depeche Mode haben sich auf Alben wie Some Great Reward unüberhörbar an Throbbing Gristle orientiert.

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